Aktuelles
Auf dieser Seite finden Sie aktuelle Mandanteninformationen. Wenn Sie recherchieren oder ältere Ausgaben betrachten möchten, können Sie hier unser Archiv aufrufen.
Zum Thema Arbeitsrecht
- EuGH konkretisiert Richtlinie: Arbeitgeber müssen Kosten für Bildschirmarbeitsplatzbrille übernehmen
- Krank gefeiert - fristlos gekündigt: Eigener WhatsApp-Status verrät "Erkrankte" auf White-Night-Ibiza-Party
- Kündigungsschutzverfahren: Kein Anspruch auf Annahmeverzug ohne hinreichende Bewerbungsbemühungen
- Verfall des Urlaubs: BAG konkretisiert Urlaubsregelung bei Arbeitsunfähigkeit
- Vertrauen zerstört: Auch verbale Gewalt kann zu einer Kündigung führen
Dass der folgende Fall seinen Ursprung in Rumänien hat, aber dennoch hier Erwähnung findet, beweist, wie wichtig Arbeitnehmerbelange in der Europäischen Union sind. Denn nationale Vorschriften sind nur dann rechtens, wenn sie mit dem EU-Recht im Einklang stehen. Und um zu bewerten, ob ein Arbeitnehmer mit der Ablehnung einer Kostenübernahme durch seine Arbeitgeberin leben muss, musste der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg ran.
Der betreffende Arbeitnehmer, seines Zeichens Mitarbeiter des Generalinspektorats im Amt für Einwanderung des Kreises Cluj, verlangte die Übernahme der Kosten für eine neue Korrekturbrille. Diese sei erforderlich geworden, weil sich sein Sehvermögen unter anderem auch aufgrund seiner Bildschirmarbeit verschlechtert habe. Die Arbeitgeberin lehnte die Kostenübernahme jedoch ab - und gegen diese Entscheidung seiner Arbeitgeberin klagte der Mann.
Das zuständige Regionalgericht setzte das Verfahren aus und fragte beim EuGH nach, wie die Richtlinie 90/270/EWG über Mindestvorschriften hinsichtlich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit an Bildschirmgeräten auszulegen sei. Und der EuGH antwortete, dass diese Richtlinie zu "speziellen Sehhilfen" Korrekturbrillen mit einschließe, die spezifisch darauf gerichtet seien, Sehbeschwerden im Zusammenhang mit einer Arbeit, bei der ein Bildschirm involviert ist, zu korrigieren und diesen vorzubeugen. Die Sehbeschwerden müssen zwar bei Untersuchungen festgestellt worden sein, um einen Anspruch auf Bereitstellung einer speziellen Sehhilfe entstehen zu lassen - das Interessante ist aber, dass die Bildschirmarbeit dabei nicht unbedingt die Ursache für diese Beschwerden sein muss. Ebenso wenig sei es Bedingung, dass die Sehhilfe nur beruflich genutzt werden dürfe. Denn, so der EuGH, sehe die Regelung "keine Beschränkung in Bezug auf die Verwendung dieser Sehhilfen vor". Es ist schlicht und ergreifend Pflicht des Arbeitgebers, eine entsprechende Bildschirmarbeitsplatzbrille zur Verfügung zu stellen.
Hinweis: Der Arbeitgeber kann seiner Pflicht dadurch nachkommen, indem er dem Arbeitnehmer die Brille entweder unmittelbar zur Verfügung stellt oder ihm die von ihm getätigten Aufwendungen erstattet.
Quelle: EuGH, Urt. v. 22.12.2022 - C-392/21
zum Thema: | Arbeitsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Wer arbeitet, darf auch feiern. Dass es sich bei dieser Form der Selbstbelohnung aber umgekehrt so verhält, dass man das Zweite besser unterlassen sollte, wenn man das Erste nicht erbringen kann, zeigt der folgende Fall des Arbeitsgerichts Siegburg (ArbG).
Eine Pflegeassistentin war für ein Wochenende zum Spätdienst eingeteilt. Für die Dienste meldete sie sich bei ihrer Arbeitgeberin arbeitsunfähig krank. In der Nacht von Samstag auf Sonntag fand dann eine "White-Night-Ibiza-Party" statt. Und bei eben diesem Event wurden Fotos gemacht - auch von der feiernden Pflegeassistentin. Diese landeten nicht nur auf der Homepage des Partyveranstalters, sondern auch im persönlichen WhatsApp-Status der Pflegekraft. Die Arbeitgeberin sprach daraufhin die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus. Dagegen klagte die Arbeitnehmerin.
Das ArbG gab jedoch der Arbeitgeberin Recht und wies die Kündigungsschutzklage ab, denn die Arbeitnehmerin habe ihre Erkrankung nur vorgetäuscht und damit das für den Bestand des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauen zerstört.
Hinweis: Zwar muss ein Arbeitnehmer während einer Krankheit nicht unbedingt zu Hause bleiben - allerdings muss er alles unterlassen, was einer Wiederherstellung der Gesundheit zuwiderläuft.
Quelle: ArbG Siegburg, Urt. v. 16.12.2022 - 5 Ca 1200/22
zum Thema: | Arbeitsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Wenn ein Arbeitnehmer eine Kündigung erhält, wird häufig dagegen eine Kündigungsschutzklage eingereicht. Wird diese Klage gewonnen, hat der Arbeitgeber ihn wieder einzustellen und den gesamten Lohn nachzuzahlen. Dieser Lohn wird dann auch Annahmeverzugslohn genannt. Doch ganz so einfach geht es nicht mehr, wie der folgende Fall des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg (LAG) beweist.
Ein Arbeitgeber hatte einem Arbeitnehmer gekündigt, die darauffolgenden Rechtsstreitigkeiten zogen sich über vier Jahre hin. In dieser Zeit hatte der Gekündigte nicht gearbeitet und somit auch kein Gehalt erhalten. Als der Arbeitnehmer den Rechtsstreit schließlich gewann, musste er folglich auch wieder eingestellt werden. Er verlangte deshalb von seinem Arbeitgeber die ausstehenden Gehaltszahlungen als Annahmeverzugslohn, was der Arbeitgeber verweigerte. Schließlich klagte er die Zahlungen in einem weiteren Verfahren ein. Nach § 11 Kündigungsschutzgesetz muss der Mitarbeiter sich auf den Annahmeverzugslohn anrechnen lassen, was er anderweitig verdient hat oder was er hätte verdienen können, wenn er eine ihm zumutbare Stelle angenommen hätte. Deshalb verlangte nun der Arbeitgeber vom Mitarbeiter Auskunft über die ihm gemachten Vermittlungsvorschläge der Arbeitsagentur bzw. des Jobcenters und was daraus geworden war. Der Arbeitnehmer gab die Antwort, und den 23 Vermittlungsvorschlägen standen nur wenige und zudem unzureichende Bewerbungen gegenüber.
Hier war das LAG hart: Unter den gegebenen Voraussetzungen musste der Arbeitgeber den Annahmeverzug nicht bezahlen, da sich der Mitarbeiter nicht ernsthaft um eine neue Stelle bemüht hatte. Der Mann erhielt somit auch kein Geld, sondern musste "lediglich" wieder eingestellt werden.
Hinweis: Arbeitnehmer sollten also in vergleichbaren Fällen die nach dem Ablauf der Kündigungsfrist erhaltenen Angebote der Bundesagentur für Arbeit und die Bewerbungen aufbewahren und vorlegen können.
Quelle: LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.09.2022 - 6 Sa 280/22
zum Thema: | Arbeitsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
In diesem Fall ging es um die Frage, ob ein Urlaubsanspruch verfällt, wenn ein Arbeitnehmer in dem Jahr, aus dem er noch Urlaubsansprüche geltend macht, gearbeitet hat und nicht nur krank war. Das letzte Wort hatte hier erst das Bundesarbeitsgericht (BAG).
Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer konnte in der Zeit von Dezember 2014 bis August 2019 wegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit seine Arbeitsleistung nicht erbringen und deshalb auch den ihm zustehenden Urlaub nicht nehmen. Nun meinte er, ihm stünde noch Resturlaub aus dem Jahr 2014 zu. Dieser sei nicht verfallen, da der Arbeitgeber seiner Hinweispflicht nicht nachgekommen sei.
Das BAG entschied kürzlich, dass Urlaubsansprüche grundsätzlich nur dann am Ende eines Kalenderjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zuvor die Möglichkeit gegeben hat, den Urlaub tatsächlich zu nehmen. Zudem muss er seinen Arbeitnehmer ausdrücklich darauf hinweisen und auffordern, den ausstehenden Urlaub zu nehmen. Der Arbeitnehmer muss den Urlaub also aus freien Stücken trotz entsprechender Aufforderungen nicht genommen haben. Das BAG stellte zudem fest, dass Besonderheiten bestehen, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub aus gesundheitlichen Gründen nicht nehmen konnte.
Bis vor Kurzem gingen die gesetzlichen Urlaubsansprüche in einem solchen Fall bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit nach 15-monatiger Frist unter. Nach der neueren Rechtsprechung verfällt der Urlaubsanspruch weiterhin nach der 15-Monatsfrist, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahr aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert war, seinen Urlaub anzutreten. In einem solchen Fall kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen im Hinblick auf entsprechende Hinweise nachkommt. Denn in diesem Fall hätte der Arbeitgeber nichts dazu beitragen können, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub tatsächlich nimmt.
Anders sieht es allerdings in Fällen wie diesem hier aus, wenn der Arbeitnehmer in dem entsprechenden Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet hat, bevor er arbeitsunfähig erkrankte. In einem solchen Fall hat der Arbeitgeber den Beschäftigten auf die Inanspruchnahme des Erholungsurlaubs hinzuweisen und darauf hinzuwirken, dass dieser ihn nimmt. Da der Arbeitgeber diese Mitwirkungspflichten hier außer Acht gelassen hatte, führte das hier dazu, dass dem Arbeitnehmer der Urlaub aus dem Jahr 2014 weiterhin zustand.
Hinweis: Resturlaubsansprüche verjähren nur noch dann, wenn der Arbeitgeber auf den Verfall ausdrücklich und nachweisbar hingewiesen hat.
Quelle: BAG, Urt. v. 20.12.2022 - 9 AZR 245/19
zum Thema: | Arbeitsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Wer seine Aggressionen nicht im Griff hat, muss mit weitreichenden Konsequenzen rechnen. So droht auch eine Kündigung, wenn es am Arbeitsplatz zu Gewalttätigkeiten oder deren Androhung kommt. Wie es sich verhält, wenn es zu herablassenden und aggressiven Verbalattacken, dabei aber nicht zu Handgreiflichkeiten kommt, musste kürzlich das Verwaltungsgericht Mainz (VG) klären.
Ein Hochschullehrer hatte an seine Kollegen und Vorgesetzten seit mehreren Monaten aggressive und herablassende E-Mails gesendet. Im Gespräch erlebte man ihn verwirrt und sprunghaft und befürchtete teilweise, dass die verbalen Angriffe in physische Gewalt umschlagen. Die Hochschule als Arbeitgeber stellte ihn deshalb von der Arbeit frei und verbot ihm das Betreten der Hochschule. Der Hochschullehrer wollte sich das nicht bieten lassen und zog mit einem Eilantrag vor das hierfür zuständige VG.
Die aggressiven und herablassenden Äußerungen konnten jedoch durch zahlreiche E-Mails nachgewiesen werden. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit war somit auch nach Ansicht der VG-Richter nicht mehr möglich. Außerdem bestand die Gefahr, dass der Hochschullehrer seine Äußerungen auf den Kreis der Studenten ausweiten würde. Auch wenn das Verhalten des Professors möglicherweise auf einer Erkrankung beruhe, müssen Kollegen und Vorgesetzte vor weiteren Angriffen geschützt werden. Das Arbeits- und Betretungsverbot war deshalb zumindest so lange gerechtfertigt, bis geklärt ist, ob eine Erkrankung vorliege und wie damit umzugehen sei.
Hinweis: Tätlichkeiten am Arbeitsplatz führen fast immer zu einer Kündigung. Das Arbeitsverhältnis kann allerdings auch bereits durch verbale Gewalt gefährdet sein. Aggressionen haben am Arbeitsplatz nichts zu suchen.
Quelle: VG Mainz, Beschl. v. 20.12.2022 - 4 L 682/22.MZ
zum Thema: | Arbeitsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Zum Thema Familienrecht
- Kein Zwangsgeld: Erscheint ein Kleinkind nicht vor Gericht, lässt eine Gesetzeslücke dies ungeahndet
- Nacheheliche Solidarität: Steuerliche Zusammenveranlagung sollte auch nach Trennung besser nicht verweigert werden
- Nicht nur Wissensvermittlung: Bei Verweigerung der Schulpflicht droht Sorgerechtsentzug
- Versorgungsausgleich: Rentenanspruch im Ausland kann Scheidungsprozess erheblich verlängern
- Zu jung gibt es nicht: Auch ein Kleinkind hat Anrecht auf Beistand im Umgangsverfahren
Wenn Familiengerichte über Sorge- und Umgangsfragen zu entscheiden haben, müssen sie sich vom betroffenen Kind einen persönlichen Eindruck verschaffen. Dass dies auch bei kleinen Kindern unverzichtbar sein kann, beweist der folgende Fall des Oberlandesgerichts Karlsruhe (OLG), bei dem die Mutter sich nicht sehr kooperativ zeigte.
Eine Mutter, die dem Vater ihrer Tochter keinen Umgang gewähren wollte, brachte die Dreijährige auch nicht zur richterlichen Anhörung. Zunächst meldete sie sich selbst und dann mehrfach das Kind krank. Schließlich teilte sie mit, das Kind sei nicht zu überreden gewesen, das Gerichtsgebäude zu betreten. Nach einem halben Jahr Schriftverkehr verhängte das Familiengericht ein Ordnungsgeld von 500 EUR.
Das OLG stellte allerdings auf die Beschwerde der Mutter fest, dass ein Ordnungsgeld gesetzlich nicht für den Fall vorgesehen ist, dass ein Kind nicht zu seiner Anhörung erscheint. Ordnungsgelder seien nur zulässig, wenn ein Beteiligter selbst seinen Termin unentschuldigt verpasst. Auch eine zwangsweise Vorführung des Kindes sei gesetzlich nicht vorgesehen. Zwangsgelder hingegen seien nicht dazu gedacht, ein zurückliegendes Fehlverhalten zu bestrafen. Sie haben den Zweck, ein Verhalten zu erzwingen, nachdem bereits eine Zuwiderhandlung erfolgt sei. Das passe aber nicht auf Terminversäumnisse. Hier entdeckte das OLG eine Gesetzeslücke und regte daher an, dass - für den Fall, dass die Anhörung des Kindes an der fehlenden Mitwirkung der Mutter zu scheitern droht - eine einstweilige Anordnung ohne vorherige Anhörung des Kindes ergehe.
Hinweis: Die praktisch umsetzbare Lösung wäre, einen Ergänzungspfleger (z.B. das Jugendamt) einzusetzen, der das Kind aus der Kita holen und zur Anhörung bei Gericht bringen darf.
Quelle: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.01.2023 - 5 WF 138/22
zum Thema: | Familienrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Trennung und Scheidung sind emotional nicht einfach. Dennoch ist Eheleuten anzuraten, auch nach Liebes- und Beziehungsende in den wichtigsten Dingen an einem Strang zu ziehen, so beispielsweise bei ihrer Steuererklärung. Denn wenn einer von beiden seine Mitarbeit an der (gemeinsamen) Steuererklärung verweigert, kann dies teuer werden, so wie im folgenden Fall des Oberlandesgerichts Bamberg (OLG).
Die Eheleute hatten sich 2019 getrennt. Die Steuererklärungen 2013 bis 2019 waren noch nicht eingereicht. Der Mann verweigerte die Zusammenarbeit bei der Erstellung. Es gab WhatsApp-Austausch mit dem Inhalt, dass der Mann an einer gemeinsamen steuerlichen Veranlagung nicht interessiert sei. Die Frau schrieb noch "Dann müsstest du mehr nachzahlen", aber der Mann blieb bei seiner wirtschaftlich unvernünftigen Haltung. Daraufhin reichte die Frau ihre Unterlagen allein über einen Lohnsteuerhilfeverein beim Finanzamt ein. Ihr standen 10.000 EUR Erstattung zu, ihre Steuerbescheide wurden bestandskräftig, sie gab das Geld aus.
Gegenüber dem Mann erließ das Finanzamt auch Steuerbescheide und forderte von ihm 23.000 EUR Nachzahlung. Daraufhin wurde dem Mann klar, dass die Zusammenveranlagung besser gewesen wäre - prompt forderte er die Frau zur Zustimmung auf. Weil seine Bescheide noch nicht bestandskräftig waren, hätte das noch vom Finanzamt berücksichtigt werden müssen.
Das OLG verkannte zwar nicht, dass er diesen Anspruch gehabt hätte - durch seine WhatsApp-Kommunikation habe er aber auf die sich aus der nachehelichen Solidarität ergebenden Pflichten der Antragsgegnerin wirksam verzichtet. Eine Sturheit, die ihn somit teuer zu stehen kam.
Hinweis: Im Rahmen der Einzelveranlagung können eheliche Steuervorteile noch in Anspruch genommen werden, wenn Unterhalt gezahlt wurde. Über die sogenannte Anlage U kann das "begrenzte Realsplitting" Steuern sparen. Die Wechselwirkung zur Unterhaltshöhe muss von einem Anwalt berechnet werden.
Quelle: OLG Bamberg, Beschl. v. 10.01.2023 - 2 UF 212/22
zum Thema: | Familienrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Der Entzug des Sorgerechts sollte in Familiensachen immer das letzte Mittel sein. Im Folgenden gab das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) den Eltern des betreffenden Kindes das Sorgerecht, das ihnen vom Familiengericht (FamG) bezüglich Aufenthaltsbestimmungsrecht, Entscheidungen in schulischen Angelegenheiten sowie Beantragung öffentlicher Hilfen entzogen war, zwar zurück, doch nicht ohne den ernsten Hinweis, das dies durchaus nicht auf Dauer gelten muss.
Ein 13-Jähriger wuchs in einem ideologischen Gemenge von Reichsbürgerideen und Kritik gegen Corona-Maßnahmen auf, was 2020/2021 dazu führte, dass die Eltern ihn wegen der Maskenpflicht nicht mehr in die Realschule gehen ließen. Die Schule machte dabei zunächst einiges mit: Er durfte ohne Maske an einem Einzeltisch sitzend die Klassenarbeiten schreiben und bekam im Übrigen Lernunterlagen nach Hause geschickt. Das Sommerzeugnis 2021 ergab einen Notendurchschnitt von 1,7. Nach den Sommerferien 2021 drängte die Schule jedoch wieder auf Einhaltung der Anwesenheitspflicht. Das Ordnungsamt flankierte die Bemühungen der Schule mit mehr als 14 Ordnungsgeldbescheiden. Weil auch das nichts änderte, wandte die Schule sich an das FamG. Zum Verhandlungstermin erschien die Familie nicht. Daraufhin entzog das FamG den Eltern vorläufig die elterliche Sorge für die Teilbereiche Aufenthaltsbestimmungsrecht, Entscheidungen in schulischen Angelegenheiten sowie Beantragung öffentlicher Hilfen und ordnete Ergänzungspflegschaft an. Außerdem ermächtigte es den Ergänzungspfleger, die Herausgabe des Kindes notfalls unter Einsatz von Gewalt und mittels Betreten und Durchsuchen der elterlichen Wohnung sowie unter Inanspruchnahme der Hilfe des Gerichtsvollziehers oder der Polizei durchzusetzen.
Die Sache ging zum OLG. Dort nahmen die Eltern am Verhandlungstermin teil und teilten mit, der Sohn sei in einem Projekt angemeldet, das ihn auf den Besuch einer Regelschule ab Februar 2023 vorbereiten werde. Neben der Maskenpflicht habe es weitere Gründe gegeben, weshalb der Sohn sich in der Regelschule nicht wohlgefühlt habe. Deswegen hob das OLG den Beschluss auf und gab den Eltern das Sorgerecht zurück - nicht ohne aber festzustellen, dass der Beschluss ursprünglich rechtmäßig gewesen sei, und nicht ohne den Besuch dieses Schulprojekts zur Auflage zu machen. Der unterbliebene Schulbesuch sei eine Kindeswohlgefährdung. Das verfassungsrechtlich geschützte Erziehungsrecht der Eltern sei durch die allgemeine Schulpflicht beschränkt. Dieser Auftrag richte sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen. Er richte sich auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung könnten effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind. Ein ausreichendes Bewusstsein der Eltern für die Bedeutung der Schulpflicht für die autonome Entwicklung des Jugendlichen bestehe nicht und es gebe weiterhin nicht unerhebliche Zweifel an der Kooperationsbereitschaft der Eltern. Daher müsse der weitere Weg des Jungen über die Auflage im Blick gehalten werden. Wenn Anbahnung und Sicherstellung des Schulbesuchs scheiterten, müsse das FamG erneut das Sorgerecht entziehen.
Hinweis: Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten Parallelgesellschaften entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft könne die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern.
Quelle: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 25.01.2023 - 5 UF 188/22
zum Thema: | Familienrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Bei Scheidung werden Renten und Pensionen, die während der Ehe entstanden sind, hälftig geteilt. Dabei kann das deutsche Familiengericht aber nur deutsche Anwartschaften berücksichtigen. Im Fall des Oberlandesgerichts Karlsruhe (OLG) musste geklärt werden, wie es sich damit verhält, wenn ein Ehegatte einen Teil seiner Rente im Ausland angespart hat.
Die Ehefrau hatte in der Ehezeit ein Kapital von gut 60.000 EUR bei der Deutschen Rentenversicherung angespart. Die Versorgungen des Mannes - vermutlich ein Grenzgänger in Süddeutschland - waren 2008 bis 2020 in der Schweiz erworben worden. Das Familiengericht meinte nun, man könne die deutsche Rente der Frau schon mal teilen - 30.000 EUR für den Mann, um den unbekannten Rest müsse die Frau sich in einem Schweizer Gerichtsverfahren oder mithilfe eines weiteren deutschen Verfahrens im Rentenalter kümmern. Wie viel das wert sei, erforschte das Gericht dabei nicht.
Diese Entscheidung hob das OLG auf die Beschwerde der Frau auf und stellte fest, dass das Familiengericht sich Gedanken über den Wert der ausländischen Versorgung hätte machen müssen. Es hätte zumindest versuchen müssen, überschlägig zu ermitteln, ob der Wert der ausländischen Anrechte dem Wert der inländischen Gegenanrechte der Frau entspricht. Das OLG nahm dann diese Überschlagsrechnung selbst vor und ermittelte, dass die Schweizer Rente ungefähr 600 EUR monatlich wert sein dürfte. Die Frau hatte ihrerseits nur 300 EUR Rente in Deutschland erarbeitet. Bei dieser Sachlage sei es unfair, der Frau schon die Teilung ihrer kleineren Rente abzuverlangen und sie bezüglich der Teilung der Schweizer Rente ins Ungewisse zu schicken. Es sei der Versorgungsausgleich insgesamt nicht bzw. erst dann durchzuführen, wenn der erste Ehegatte ins Rentenalter komme und dann konkret errechnet werden könne, wie man den Halbteilungsgrundsatz umsetzen kann.
Hinweis: Die Ermittlung des Werts ausländischer Anrechte ist häufig ein Problem, weil die ausländischen Behörden am Scheidungsverfahren erst gar nicht mitwirken oder weil sie nicht in der Lage sind, Auskünfte zu erteilen, die innerhalb der Systematik des Versorgungsausgleichs mit den deutschen Anwartschaften vergleichbar sind. Das gilt vor allem für Länder, die keinen Versorgungsausgleich kennen. Scheidungen mit Auslandsberührung bei der Rente dauern deshalb oft sehr viel länger. Oft schließt sich ein Verfahren im Ausland und/oder im Alter an.
Quelle: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.01.2023 - 5 UF 58/22
zum Thema: | Familienrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
In Verfahren vor dem Familiengericht zum Kindeswohl kommt einem "Verfahrensbeistand" große Bedeutung zu. Dieser "Anwalt des Kindes" soll die Interessen des Kindes formal in das Verfahren einbringen. Denn das Gesetz geht davon aus, dass das Interesse des Kindes nicht mit dem beider Eltern im Einklang sein kann - sonst würden diese sich nicht vor Gericht darüber streiten. Im Folgenden hatte das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) zu klären, ob die Entscheidung zulässig ist, einem dreijährigen Kleinkind keinen Verfahrensbeistand zu bestellen, weil das Kind ohnehin zu klein ist, um seinen Willen zu ermitteln.
Was zuvor das Familiengericht entschied, fand beim OLG keinen Anklang. Der Hinweis auf das junge Alter des Kindes rechtfertige das Absehen von der Bestellung eines Verfahrensbeistands unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt. Der Verfahrensbeistand habe die Aufgabe, das dem Kindeswohl entsprechende Interesse des dreijährigen Kindes zu ermitteln und im Verfahren zur Geltung zu bringen. Die Wahrnehmung der Kindesinteressen sei von der - bei dem Kleinkind möglicherweise eingeschränkten - Erkennbarkeit einer Willensäußerung völlig unabhängig. Gerade bei Kindern unter drei Jahren, die ihren Willen noch nicht oder nur ganz begrenzt äußern können, sei der Verfahrensbeistand grundsätzlich erforderlich, da er nicht nur Sprachrohr des Kindes, sondern Vertreter der objektiven und subjektiven Kindesinteressen ist. Kinder, die wegen ihres jungen Alters möglicherweise nicht persönlich angehört werden, bedürfen im Verfahren regelmäßig eines eigenen Interessenvertreters, damit ihre individuellen Interessen im Verfahren nicht in den Hintergrund treten.
Hinweis: Auch wenn der Amtsermittlungsgrundsatz bedeutet, dass der Richter selbst den Sachverhalt und das Kindeswohl ermitteln muss, wird dies in der Praxis häufig auf die Verfahrensbeistände delegiert. Diese sprechen auch mit Dritten (z.B. der Kita) und erstellen häufig einen ausführlichen schriftlichen Bericht, der dem Richter als Entscheidungsgrundlage dient. Konstruktive Zusammenarbeit mit dem Verfahrensbeistand ist daher für die Eltern günstig, wenn sie ihr Anliegen positiv beurteilt haben möchten.
Quelle: Brandenburgisches OLG, Beschl. vom 21.12.2022 - 13 UF 116/22
zum Thema: | Familienrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Zum Thema Mietrecht
- Begriffserklärung: Wann Notrufgeräte im Seniorenheim keine zentrale Anlage der Haustechnik sind
- Berliner Mietpreisbremse: Amtsgericht Neukölln bringt vom BGH bestätigte Veröffentlichung der Verordnungsbegründung zu Fall
- Definitionsfrage: Wie schnell muss ein Erdrutsch sein, um ein Erdrutsch zu sein?
- Hilfsweise ordentliche Kündigung bleibt: Mietschuldenausgleich innerhalb der Schonfrist wirkt sich nur auf fristlose Kündigung aus
- Im Zweifel für den Mieter: Unklare Definition zu Schönheitsreparaturen lässt Klausel unwirksam werden
Einen spannenden Fall hatte das Oberlandesgericht Hamm (OLG) zu entscheiden, in dem es um die Frage ging, ob Notrufendgeräte in Seniorenheimen eine zentrale Anlage der Haustechnik sind.
Eine Vermieterin besaß ein Seniorenzentrum, in dessen Gebäudekomplex eine der gewerblichen Mieterinnen einen Pflegebereich sowie Wohnungen für betreutes Wohnen unterhielt. Sämtliche Wohnungen waren bei Übergabe mit einem "Notruf" ausgestattet. Dieser bestand jeweils aus einem mobilen Endgerät, das über Stecker - direkt oder auch mittelbar über ein "normales" Telefongerät - mit dem (Telekommunikations-)Leitungsnetz des Hauses verbunden war. Nun meinte die Mieterin, dass die Weiterleitung von Notrufen aus den Wohnungen nicht mehr verlässlich funktionieren würde. Die Ursachen würden teilweise im Leitungsnetz und teilweise in Defekten der veralteten Notrufgeräte liegen. Eine Reparatur sei nicht möglich, weil es wegen des Alters der Apparate keine Ersatzteile mehr gebe. Eine neue Anlage verursache Kosten von über 37.000 EUR. Sie meinte, die Vermieterin wäre für den Austausch der Notrufanlage verantwortlich.
Das sah das OLG allerdings anders. Notrufendgeräte in einem vermieteten Altenheim, die nicht über spezifische Leitungen oder technische Vorrichtungen miteinander verbunden sind, lassen sich nicht als "zentrale Anlage der Haustechnik" im Sinne des Mietvertrags oder auch nur als wesentlicher Bestandteil einer solchen "zentralen Anlage" auffassen.
Hinweis: Es zeigt sich wieder einmal, wie wichtig es sein kann, im Mietvertrag eindeutige Regelungen über die Reparatur von Mietgegenständen zu treffen.
Quelle: OLG Hamm, Urt. v. 13.10.2022 - 18 U 205/21
zum Thema: | Mietrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Ein kleines Amtsgericht hielt die Fahne im Sinne zahlreicher Vermieter hoch, und das gegen den Bundesgerichtshof (BGH). Das Amtsgericht Berlin-Neukölln (AG) bewies sich nämlich in seiner Analyse als akribischer als die hohen Kollegen in Karlsruhe. Selbst wenn es um die Mietpreisbremse und die Mieterinteressen um Rückzahlungen zu viel gezahlter Mieten ging - auch hier muss Recht Recht bleiben.
Mieter zahlten für eine Wohnung 543 EUR, nach der durch den Gesetzgeber eingeführten Mietpreisbremse hätten sie aber lediglich 308 EUR bezahlen müssen. Deshalb verlangten sie nun die Überzahlungen zurück. Das AG musste nun klären, ob die Mietpreisbremse in Berlin überhaupt rechtmäßig zustande gekommen war. Zwar hatte der BGH zuvor entschieden, dass die Berliner Mietpreisbremse rechtmäßig sei und insbesondere den Begründungsanforderungen genügen würde. Sie sei durch Veröffentlichung auf der Internetseite des Berliner Abgeordnetenhauses von amtlicher Stelle und für die Öffentlichkeit leicht zugänglich gemacht worden (BGH, Urteil vom 27.05.2020 - VIII ZR 45/19).
Damit wollte sich das hier zuständige AG jedoch immer noch nicht zufrieden geben und gab ein Gutachten zur Frage der Art des Zeitpunkts der Veröffentlichung der Verordnungsbegründung in Auftrag - und dieses kam zu einem vernichtenden Ergebnis. Zwar sei die Begründung im Internet abrufbar gewesen, jedoch nicht über die einschlägigen Suchmaschinen unter Angabe von entsprechenden Suchbegriffen. Es musste für die Begründung der exakte (!) Link eingegeben werden - ohne diese Kenntnis war ein Aufrufen der Begründung nicht möglich. Das war jedenfalls in den Jahren 2015 bis 2017 der Fall. Daher war die Mietpreisbremse nicht ordnungsgemäß in Kraft getreten, und zu viel gezahlte Miete kann nicht zurückverlangt werden.
Hinweis: Das wird vermutlich nicht das letzte Urteil in dieser Angelegenheit gewesen sein. Jedenfalls scheint hier das AG weiter und tiefer geforscht zu haben als der BGH.
Quelle: AG Berlin-Neukölln, Urt. v. 16.11.2022 - 9 C 489/20
zum Thema: | Mietrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Dass Juristen oftmals zu Recht als wahre Haarspalter wahrgenommen werden, ist durchaus nicht von der Hand zu weisen. Der folgende Fall des Bundesgerichtshofs (BGH) zeigt aber auf, dass diese Akribie durchaus ihre Bewandtnis hat. Denn was auf den ersten Blick als klare Formulierung daherkommt, ist im Streitfall schnell eine Frage der Interpretation und von erheblichen Kosten. Und dann muss unter die Lupe genommen werden, wer diese zu übernehmen hat.
Der Eigentümer eines Hauses hatte eine Wohngebäudeversicherung abgeschlossen, deren Versicherungsschutz sich auch auf Schäden durch Elementargefahren wie unter anderem einen Erdrutsch erstreckte. So hieß es in den Versicherungsbedingungen: "Erdrutsch ist ein naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen." Das versicherte Grundstück des Mannes lag am vorderen Rand einer vor etwa 80 Jahren am Hang aufgestellten Terrasse. Dann gab es Rissbildungen an dem Wohnhaus und der zugehörigen Terrasse. Der Mann meinte, die Schäden seien nur mit einem Erdrutsch erklärbar. Sie seien durch nicht augenscheinliche Rutschungen des Untergrunds von wenigen Zentimetern pro Jahr verursacht worden. Deshalb verlangte er für die gesamte Beseitigung der Schäden Kosten im Bereich von insgesamt 100.000 EUR als Vorschuss von der Versicherung. Als diese nicht zahlte, zog der Mann vor die Gerichte.
Der BGH musste die Frage klären, ob die versicherte Gefahr "Erdrutsch" ein in einer bestimmten Geschwindigkeit ablaufendes Ereignis voraussetze, und meinten: Nein. Somit habe hier nach Ansicht der Richter durchaus ein "Erdrutsch" vorgelegen - die Versicherung müsse zahlen. Es würden auch Schäden am Versicherungsobjekt umfasst, die durch allmähliche, nicht augenscheinliche naturbedingte Bewegungen von Gesteins- oder Erdmassen verursacht werden.
Hinweis: Der BGH hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das vorinstanzliche Oberlandesgericht zurückverwiesen, das der Klage nun wohl stattgeben muss.
Quelle: BGH, Urt. v. 09.11.2022 - IV ZR 62/22
zum Thema: | Mietrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Egal, wie uneins Sie sich mit Ihrem Vermieter sind: Klagen Sie, aber zahlen Sie Ihre Miete! Denn wenn wegen Mietschulden eine Kündigung ausgesprochen wurde, ist der Auszug meistens unumgänglich - so auch im folgenden Fall, den letztlich der Bundesgerichtshof (BGH) zu bewerten hatte.
Seit 1984 hatte ein Mieter eine Wohnung in Berlin gemietet. Er geriet in Rückstand mit der Zahlung der Miete, da er teilweise Abzüge von der Miete wegen eines angeblichen Mangels vorgenommen hatte. Die Vermieterin klagte die Beträge ein und gewann. Trotzdem zahlte der Mieter weiterhin nur eine geminderte Miete. Als mehr als zwei Monatsmieten offen waren, erklärte die Vermieterin die fristlose - hilfsweise die ordentliche - Kündigung des Mietverhältnisses. Nachdem schließlich eine Räumungsklage eingereicht wurde, zahlte der Mieter die rückständige Miete. Als das in zweiter Instanz zuständige Landgericht die Räumungsklage abgewiesen hatte, zog die Vermieterin bis zum BGH.
Der BGH hat das Urteil aufgehoben und die Angelegenheit zurückverwiesen. Eine innerhalb der Schonfrist - also bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Einreichung der Räumungsklage - getätigte Zahlung hatte nur Auswirkungen auf eine fristlose Kündigung, nicht jedoch für eine aufgrund desselben Mietrückstands hilfsweise gestützte ordentliche Kündigung. Dies sei laut BGH-Richter der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers.
Hinweis: Die pünktliche Zahlung der Miete ist sehr wichtig. Niemals darf es einem Mieter passieren, mit mehr als zwei Monatsmieten in Verzug zu kommen.
Quelle: BGH, Urt. v. 05.10.2022 - VIII ZR 307/21
zum Thema: | Mietrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Zeit für einen Klassiker, der immer wieder Gerichte beschäftigt: Die Mietvertragsklausel zu Schönheitsreparaturen. Hier musste sich das Amtsgericht Hamburg (AG) um den Streit der beiden Vertragsparteien kümmern. So viel sei schon hier verraten: Immer dann, wenn es der Vermieter mit seinen Mietvertragsklauseln übertreibt, können sich Mieter freuen - und hier war es einmal wieder soweit.
Es ging um eine vermietete Wohnung mit über 140 m². Nach dem Mietvertrag war der Mieter verpflichtet, während der Mietzeit die laufenden Schönheitsreparaturen innerhalb der Wohnung auszuführen. Diese beinhalteten das Tapezieren, Anstreichen der Wände und Decken, das Pflegen und Reinigen der Fußböden, das Streichen der Innentüren, der Fenster und der Außentüren von innen sowie das Streichen der Heizkörper und der Versorgungsleitungen innerhalb der Wohnung. Nach Beendigung des Mietverhältnisses monierte der Vermieter diverse Mängel und nicht ausgeführte Schönheitsreparaturen. Er forderte knapp 16.000 EUR, die er einklagte. Der Mieter erhob Widerklage und verlangte seine Kaution zurück.
Das AG war auf der Seite des Mieters. Der Vermieter hat keinerlei Zahlungen erhalten. Ein Anspruch wegen nicht durchgeführter Schönheitsreparaturen bestand nicht, da der Mieter gar nicht verpflichtet war, die Wohnung während des laufenden Mietverhältnisses zu streichen. Die entsprechende Klausel im Mietvertrag war nämlich unwirksam. Eine wirksame Abwälzung von laufenden Schönheitsreparaturen ist daher auf den Mieter nicht erfolgt. Die Klausel war fehlerhaft, da nicht hinreichend deutlich wurde, dass die Fenster nur von innen zu streichen seien. Zudem stand der wirksamen Abwälzung ebenfalls entgegen, dass der Mieter mietvertraglich auch zum Streichen der Versorgungsleitungen verpflichtet wurde. Das reichte aus, um die Klausel insgesamt unwirksam werden zu lassen.
Hinweis: Viele Mietvertragsklauseln zu Schönheitsreparaturen sind noch immer unwirksam. Prüfen kann sie der Rechtsanwalt.
Quelle: AG Hamburg, Urt. v. 26.10.2022 - 49 C 150/22
zum Thema: | Mietrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Zum Thema Verkehrsrecht
- Einschränkungen nach Sturz: Laut Gutachten nicht nachvollziehbare Folgen fließen nicht in Bemessungsgrundlage ein
- Keine Vorsätzlichkeit: Geschwindigkeitsverstoß durch Irrtum über Ende von Straßenschäden
- Mithaftung bei Unfällen: Erhöhte Betriebsgefahr bei Geschwindigkeiten oberhalb der Richtgeschwindigkeit
- Unzulässige Geschwindigkeitsmessung: Polizeiliches Nachfahren bei Dunkelheit mit ungeeichtem Tacho bleibt für Temposünder ohne Folgen
- Vorsorgliches Ausweichmanöver: Auch ohne Wildberührung besteht Leistungspflicht des Versicherers wegen Wildunfalls
Verursacht ein losgerissener Hund den Sturz eines Radfahrers, haftet der Halter des Hunds wegen der sogenannten Tiergefahr für die Schäden. Der folgende Fall des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (OLG), der sich mit den gesundheitlichen Folgen und deren finanzieller Bewertung eines durch einen Hund zu Fall gebrachten Mannes beschäftigte, mag so manche Leser irritieren. Aber lesen Sie selbst.
Der Kläger befuhr links neben seiner Lebensgefährtin einen Rad- und Fußweg mit dem Fahrrad, als eine von der Leine losgerissene Hündin seinen Weg kreuzte. Der Radfahrer stürzte und verletzte sich am rechten Arm und der rechten Hand. Das Landgericht Frankfurt am Main (LG) hatte nach Zeugenvernehmung und Einholung eines Sachverständigengutachtens das - normalerweise - "obere Ende" der Hundeleine als Verantwortlichen zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 7.000 EUR verurteilt. Doch dies war dem Kläger nicht genug - er verlangte mehr.
Die Berufung, mit der der Mann folglich diesen weitergehenden Schmerzensgeldanspruch geltend machte, hatte vor dem OLG jedoch keinen Erfolg. Das LG habe hier zu Recht auf Basis der sachverständig bestätigten Beeinträchtigungen - unter anderem eines Anpralltraumas des rechten Handgelenks und Ellenbogens, einer Radiusköpfchenfraktur sowie Rupturen am Handgelenk - das Schmerzensgeld mit 7.000 EUR bemessen. Die geltend gemachten nicht unerheblichen Bewegungsbeeinträchtigungen am rechten Ellbogen seien sachverständig nicht festgestellt worden. Soweit sich der Kläger auf Schmerzen bei alltäglichen Abläufen wie dem An- und Ausziehen verweise, sei dies auf Basis des Sachverständigengutachtens nicht nachvollziehbar.
Hinweis: In der täglichen Praxis gibt es immer wieder Streit über die Höhe des angemessenen Schmerzensgeldes. Maßgebend für dessen Höhe sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Das OLG hat die von der Vorinstanz angenommene Höhe des Schmerzensgeldes bestätigt - selbst vor dem Hintergrund, dass es dem Kläger nicht mehr möglich ist, Freizeitsportarten, wie Motorrad- und sportliches Fahrradfahren, auszuüben. Dass kein vorsätzliches Handeln des Beklagten vorgelegen habe, sei laut LG ebenfalls in die Bewertung eingeflossen.
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 20.12.2022 - 11 U 89/21
zum Thema: | Verkehrsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Bei Strecken mit Geschwindigkeitsbeschränkungen verhält es sich auf Autobahnen subjektiv wie mit Baustellen: Sie erscheinen oftmals endlos. Was passiert, wenn man bezüglich des Endes einer mit Bodenwellen begründeten Geschwindigkeitsbeschränkung irrt und einem deshalb Vorsätzlichkeit vorgeworfen wird, sobald man geblitzt wurde? Das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) wusste Antwort auf diese Frage.
Ein Autofahrer befuhr eine Autobahn. Aufgrund von Unebenheiten auf der Fahrbahn wurde die Geschwindigkeit durch ein entsprechendes Zusatzschild reduziert. Eine Meterangabe oder ein Aufhebungsschild gab es jedoch nicht. Zunächst hielt sich der Mann auch an die vorgegebene Geschwindigkeitsbegrenzung. Als er dann aber keinerlei Unebenheiten mehr erkennen konnte, gab er Gas - und wurde mit 136 km/h geblitzt. Es erging ein Bußgeldbescheid, in dem dem Betroffenen ein vorsätzlicher Geschwindigkeitsverstoß vorgeworfen wurde - und durch die vermutete Vorsätzlichkeit verdoppelte sich das Bußgeld auf 240 EUR. Dagegen legte er Einspruch ein und gab an, durchaus nicht vorsätzlich gehandelt zu haben, da aus seiner Einschätzung die Gefahrenstelle vorüber war. Andere Fahrzeuge seien auch schneller gefahren, Bodenwellen nicht mehr zu sehen gewesen.
Das OLG gab dem Betroffenen Recht und halbierte das Bußgeld wieder auf 120 EUR für eine fahrlässige Begehungsweise. Der Autofahrer habe sich nicht über das Limit als solches geirrt, sondern nur über die fortgesetzte Gefahrenlage. Daher sei ein Vorsatz nicht zu unterstellen. Nur wenn zweifelsfrei feststeht, dass die Gefahr vorüber sei, gelte das Tempolimit auch ohne Aufhebungszeichen nicht mehr - dies sei hier aber nicht der Fall gewesen.
Hinweis: Tatsächlich hatte die Gefahr in dem Streckenabschnitt, in welchem der Betroffene geblitzt wurde, noch bestanden. Das Gericht ist daher nur von einer fahrlässigen Fehleinschätzung der Beschaffenheit der Örtlichkeit ausgegangen. Im Übrigen entfällt ein Streckenverbot, das zusammen mit einem Gefahrenzeichen angeordnet ist, auch ohne Aufhebungszeichen nur dann, wenn sich aus der Örtlichkeit zweifelsfrei ergibt, von wo an die angezeigte Gefahr nicht mehr besteht.
Quelle: Brandenburgisches OLG , Beschl. v. 07.11.2022 - 2 OLG 53 Ss-OWi 388/22
zum Thema: | Verkehrsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Wer sein Fahrzeug auf Autobahnen deutlich über der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h steuert, muss im Schadensfall mit einer Teilschuld rechnen, da eine solche Ausgangsgeschwindigkeit als betriebsgefahrerhöhend berücksichtigt wird. Dies wird auch im Fall des Oberlandesgerichts Schleswig (OLG) deutlich.
Die Klägerin befuhr mit ihrem Auto eine Autobahn mit einer Geschwindigkeit zwischen etwa 120 bis 140 km/h, als sie auf der linken Fahrbahn nach einem Spurwechsel mit dem Fahrzeug des Beklagten kollidierte, der mit einer Geschwindigkeit von ca. 200 km/h fuhr. Die Frau behauptete, sie sei von der rechten auf die linke Fahrspur gewechselt, um Fahrzeuge auf der rechten Spur zu überholen. Trotz Blicken in Rück- und Seitenspiegel sowie über die Schulter habe sie das Beklagtenfahrzeug nicht gesehen - die Spur sei für sie frei gewesen. Demgegenüber gab der Beklagte an, die Klägerin sei unvermittelt vor seinem Fahrzeug auf die linke Spur gewechselt. Wegen des geringen Abstands habe er trotz einer Vollbremsung den Unfall nicht mehr vermeiden können.
Das OLG hat unter Abwägung der Verursachungsbeiträge eine Haftungsquote von 75 % zu 25 % zugunsten des Beklagten ausgeurteilt. Denn der Senat sah die überwiegende Ursache für den Unfall bei der Klägerin selbst, da sie den Fahrspurwechsel noch nicht vollständig abgeschlossen hatte, als es zum Unfall kam. Auf Beklagtenseite war dabei aber auch die Betriebsgefahr wegen der deutlichen Überschreitung der Richtgeschwindigkeit zu berücksichtigen. Die Mithaftung am Unfall ist bei einer Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um ca. 70 km/h mit 25 % anzusetzen.
Hinweis: Eine deutlich über der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130 km/h liegende Ausgangsgeschwindigkeit ist bei der Haftungsabwägung als betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen. Durch sie vergrößert sich die Gefahr, dass sich andere Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellen können und insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzen.
Quelle: OLG Schleswig, Urt. v. 15.11.2022 - 7 U 41/22
zum Thema: | Verkehrsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Pi mal Daumen, dazu Tageszeit minus Temperatur, und fertig ist die Geschwindigkeitsmessung? Wer mitbekommen hat, dass selbst die Ergebnisse angeblich ausgefeilter Messgeräte bereits an gerichtliche Grenzen gestoßen sind (Stichwort " LEIVTEC XV3"), weiß: Nein. Und genau dieselbe Antwort musste das Amtsgericht Dortmund (AG) zwei Beamtinnen geben, die in unterstellt "guter Absicht" einem Temposünder im wahrsten Wortsinne auf der Spur waren.
Ein Autofahrer befuhr mit seinem Fahrzeug eine Autobahn, als er in eine Geschwindigkeitsmessung geriet. Einige Zeit später erhielt er einen Bußgeldbescheid mit dem Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung um 36 km/h. Er war dabei aber nicht von einem "Blitzer" gemessen worden, sondern durch Polizeibeamtinnen, die unter Verwendung eines nicht geeichten Tachos hinter ihm hergefahren waren. Der Betroffene legte deshalb Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein und trug vor, dass ein Toleranzabzug in Höhe von 20 % bei einer Messung mit einem ungeeichten Tacho nicht ausreichend gewesen sei. Außerdem sei die Messung insgesamt unverwertbar, da zum Beispiel der gleichbleibende Abstand zum Fahrzeug nicht dokumentiert sei.
Bei all den Unklarheiten war das eine klare Angelegenheit - das AG sprach den Betroffenen frei. Das Gericht stellte fest, dass die Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung nicht nachvollzogen werden konnte. Es sei nicht erkennbar, wie einerseits eine zuverlässige Messstrecke von 1.000 m, andererseits der gleichbleibende Abstand des Fahrzeugs und außerdem noch eine durchgehende Tachometerbeobachtung durch beide Zeuginnen sichergestellt werden konnte, ohne dass die beiden Beamtinnen kommunizierten. Bei einer durchgehenden Tachometerbeobachtung sowohl durch die Beifahrerin als auch die Fahrerin wären eine ununterbrochene Beobachtung des Fahrzeugs des Betroffenen, eine durchgehende Kontrolle des gleichbleibenden Abstands des Polizeifahrzeugs und schließlich eine gleichzeitige Feststellung der Messstrecke nach menschlichem Ermessen nicht möglich. Zudem fand die Messung zur Nachtzeit statt.
Hinweis: Das Gericht wies zutreffend darauf hin, dass eine Sichtbarkeit der Konturen des gemessenen Fahrzeugs für die Polizeibeamtinnen überhaupt nicht plausibel erklärbar festgestellt werden konnte. Zur Nachtzeit und ohne Umgebungsbeleuchtung kann ohne weitere Beleuchtungsquellen, die die Fahrzeugkonturen eines Fahrzeugs aufhellen, anerkanntermaßen nicht davon ausgegangen werden, dass Fahrzeugkonturen eines gemessenen 100 m entfernten Fahrzeugs erkennbar sind. Die bloße Erkennbarkeit von Rücklichtern reicht nach der Rechtsprechung nicht aus, um zuverlässig eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren zur Nachtzeit durchführen zu können.
Quelle: AG Dortmund, Urt. v. 22.11.2022 - 729 OWi-265 Js 1807/22-117/22
zum Thema: | Verkehrsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Um eine Kollision mit Wildtieren zu vermeiden, kam es zu einem Ausweichmanöver und infolge dessen zum Sturz. Da dieser aber nicht auf einer Wildberührung beruhte und somit folglich auch kein Wildunfall war, wollte sich im folgenden Fall der Teilkaskoversicherer schulterzuckend aus der Affäre ziehen. Doch das Oberlandesgericht Saarbrücken (OLG) nahm sich der Sache an und klärte die notwendige Frage, ob das erfolgte Ausweichmanöver Schlimmeres habe verhindern können.
Ein Motorradfahrer war mit seinem Sohn als Sozius auf einer Landstraße unterwegs. Beim Einfahren in eine Rechtskurve entdeckte er direkt am rechten Fahrbahnrand eine Herde Rehe. Da er den Eindruck hatte, diese würden gleich die Straße queren und mit ihm kollidieren, wich er nach links aus. Dabei kam er von der Straße ab und stürzte. Er meldete den Schaden seiner Teilkaskoversicherung, doch diese verweigerte die Zahlung; schließlich läge kein versicherter Wildschaden vor - eine Wildberührung habe ja nicht stattgefunden.
Doch, sagte das OLG und gab dem Motorradfahrer Recht. Zwar sei es generell richtig, dass eine Leistungspflicht wegen Wildunfalls eine Wildberührung voraussetze. Im Ausnahmefall müsse aber auch gezahlt werden, wenn durch ein erfolgtes angemessenes Ausweichen ein höherer Schaden habe verhindert werden sollen. Wenn man als Motorradfahrer direkt am Fahrbahnrand eine Herde Rehe wahrnimmt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese sich in Bewegung setzt und auf die Straße läuft. Ein vorsorgliches Ausweichmanöver ist daher nicht unangemessen.
Hinweis: Gemäß § 83 Abs. 1 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) hat der Versicherer Aufwendungen des Versicherungsnehmers nach § 82 Abs. 1 und 2 VVG, die dieser zur Schadensabwendung oder -minderung tätigt, auch wenn sie erfolglos geblieben sind, insoweit zu erstatten, als der Versicherungsnehmer sie den Umständen nach für geboten halten durfte. Ersatzfähig sind die Folgen von Fahrmanövern, die der Fahrer nach den Umständen - insbesondere zur Vermeidung des Versicherungsfalls "Zusammenstoß mit Tieren" - für erforderlich halten durfte. Hätte der Motorradfahrer eine Vollkaskoversicherung für sein Motorrad abgeschlossen gehabt, hätte die Versicherung in jedem Fall zahlen müssen. Probleme wie im vorliegenden Fall treten nur dann auf, wenn "nur" eine Teilkaskoversicherung besteht.
Quelle: OLG Saarbrücken, Urt. v. 23.11.2022 - 5 U 120/21
zum Thema: | Verkehrsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Zum Thema Sonstiges
- 50.000 EUR Verlust: Telefonische Weitergabe einer TAN ist grobe Fahrlässigkeit
- Google muss löschen: EuGH stärkt Rechte gegen falsche Inhalte in Suchergebnissen
- Illegales Online-Glücksspiel: Rückzahlungsansprüche von Wetteinsätzen wegen fehlender Glücksspiellizenz
- Vertragliche Nebenpflicht: Kein gesondertes Entgelt für Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung
- Wenn Bello beißt: Halter kann auch dann haften, wenn ihm selbst kein Fehlverhalten vorzuwerfen ist
Das Online-Banking erfordert zwei Legitimationsprozesse - zum einen die persönliche Identifikationsnummer (PIN) und zum anderen eine Transaktionsnummer (TAN). Mitterweile gibt es verschiedene technische Verfahren, diese Zweiwegeidentifikation zu erfüllen, beispielsweise per Fingerabdruck in einer App oder via SMS-Übermittlung von Nummern. Dass eine telefonische Übermittlung der Identifikationsnummern immer ausgeschlossen ist, musste ein Ehepaar schmerzlich lernen - denn auch das Landgericht Saarbrücken (LG) konnte ihm nicht helfen.
Zwei Eheleute nutzten Online-Banking, zu dem in der Rahmenvereinbarung mit der Bank ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass eine TAN nicht außerhalb des Online-Banking mündlich - zum Beispiel per Telefon - weitergegeben werden darf. Als plötzlich Abbuchungen durch Echtzeitüberweisungen in Höhe von knapp 50.000 EUR erfolgten, behauptete der Ehemann, seine Frau sei von dem Online-Banking-System der Bank aufgefordert worden, den TAN-Generator zu aktualisieren. Hierzu habe sie ihn an den Bildschirm gehalten und eine TAN eingegeben. Darauf sei die Mitteilung "Auftrag fehlgeschlagen" erschienen. Daraufhin habe ein Mann unter der Nummer der Bank auf dem Handy der Ehefrau angerufen und sich als Bankmitarbeiter ausgegeben. Er erklärte, dass die Aktualisierung nunmehr durch ihn vorgenommen werde. Daraufhin teilte die Ehefrau dem Anrufer die TAN mit. Der angebliche Bankmitarbeiter erklärte nun, dass ihm ein Fehler unterlaufen sei - die Frau gab ihm folglich zwei weitere TAN per Telefon durch. Nun verlangte das Ehepaar die knapp 50.000 EUR von der Bank zurück.
Doch da konnte das LG leider nicht weiterhelfen; das Geld erhielten die Eheleute größtenteils nicht zurück. Im Rahmen des Online-Bankings kann die telefonische Weitergabe einer TAN den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit begründen, wenn sich dem Kunden nach den Gesamtumständen des Falls geradezu aufdrängen musste, dass die Aufforderung zur Weitergabe der TAN nicht von der Bank stammen konnte.
Hinweis: Eindringlich kann nur vor solchen kriminellen Machenschaften gewarnt werden. Sparkassen und Banken fragen niemals (!) telefonisch die PIN oder eine TAN ab.
Quelle: LG Saarbrücken, Urt. v. 09.12.2022 - 1 O 181/20
zum Thema: | Sonstiges |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Egal, welche Frage man hat: Google weiß die Antwort. Oder etwa nicht? Da das Internet ein Spielplatz für alle ist, kann man dort auch alles finden. Ob das aber der Wahrheit entspricht, weiß womöglich immer nur derjenige, um den es sich konkret handelt. Ob man gegen die Internetmacht Google überhaupt eine Chance hat, Ergebnisse von Suchanfragen löschen zu lassen, wenn unrichtige Informationen angezeigt werden? Ja - jedenfalls dann, wenn man den Europäischen Gerichtshof (EuGH) an seiner Seite weiß.
Zwei Investmentgesellschaften forderten Google auf, Links aus den Ergebnissen einer anhand ihrer Namen durchgeführten Suche zu bestimmten Artikeln zu löschen, die das Anlagemodell dieser Gesellschaften kritisch darstellten. Die Kläger machten geltend, dass diese Artikel unrichtige Behauptungen enthielten. Google lehnte es jedoch ab, diesen Aufforderungen Folge zu leisten. Es meinte, es ginge um den beruflichen Kontext von Artikeln und Fotos und man wisse nicht, ob die in den Artikeln enthaltenen Informationen unrichtig seien.
Doch dieser Einstellung gegenüber schüttelte der EuGH den Kopf. Die Rechte der betroffenen Person auf Schutz der Privatsphäre und auf Schutz personenbezogener Daten überwiegen im Allgemeinen gegenüber dem berechtigten Interesse der Internetnutzer am potentiellen Zugang zur fraglichen Information. Das vielbeschworene Recht auf freie Meinungsäußerung und Information kann nämlich nicht berücksichtigt werden, sobald zumindest ein - für den gesamten Inhalt nicht unbedeutender - Teil der in dem aufgelisteten Inhalt stehenden Informationen unrichtig ist. Der Betreiber einer Suchmaschine muss die in dem aufgelisteten Inhalt enthaltenen Informationen löschen, wenn der Antragsteller nachweist, dass sie offensichtlich unrichtig sind. Es ist nicht erforderlich, dass sich dieser Nachweis aus einer gerichtlichen Entscheidung ergibt, die gegen den Herausgeber der Website erwirkt wurde.
Hinweis: Ein gutes und richtiges Urteil - denn das Internet vergisst sonst nichts. Und wer möchte schon etwas Falsches von sich im Internet lesen?
Quelle: EuGH, Urt. v. 08.12.2022 - C-460/20
zum Thema: | Sonstiges |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Glücksspiele können süchtig machen, und das gilt natürlich auch im Internet. Eben deshalb unterliegen sie auch strengen gesetzlichen Vorgaben. Ob ein Vergehen gegen die geltenden Gesetze auch bedeutet, dass Spiel- oder Wetteinsätze zurückgefordert werden können, musste im Folgenden das Oberlandesgericht Köln (OLG) bewerten.
Ein Mann hatte zwischen März 2014 und Juni 2020 auf einer in deutscher Sprache abrufbaren Online-Casino-Seite an Online-Glücksspielen in Form von "Poker"- und "Blackjack"-Spielen teilgenommen. Die Betreiberin der Glücksspiele verfügte damals über eine Glücksspiellizenz im Land Schleswig-Holstein, jedoch nicht über eine Konzession für das Anbieten von Online-Glücksspielen in Nordrhein-Westfalen oder Brandenburg. In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen stand unter anderem, dass sich das Angebot nur an Spieler in Schleswig-Holstein richten würde. Der Mann aus Nordrhein-Westfalen verspielte dennoch insgesamt fast 60.000 EUR und verlangte das Geld nun zurück.
Das OLG stellte sich auf die Seite des Klägers. Denn nach dem Gesetz zur Ausführung des Glücksspielstaatsvertrags in Nordrhein-Westfalen ist die Erlaubnis vor der Durchführung der Glücksspiele eben auch in Nordrhein-Westfalen einzuholen. Und an dieser Erlaubnis fehlte es. Daran änderte auch der Hinweis nichts, dass sich das Angebot nur an Spieler in Schleswig-Holstein richten würde. Denn der zwischen den Parteien zustande gekommene Vertrag war schlicht und ergreifend nichtig, da er gegen das Gesetz verstoßen hatte.
Hinweis: Ein bitteres Urteil für die Betreiber von Glücksspielen. Geschädigte sollten schnellstmöglich ihren Rechtsanwalt aufsuchen, um Ansprüche geltend zu machen.
Quelle: OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22
zum Thema: | Sonstiges |
(aus: Ausgabe 03/2023)
Wer seinen Kredit oder sein Darlehen vorzeitig abbezahlen möchte, muss mit einer sogenannten Vorfälligkeitsentschädigung rechnen, da das vergebende Kreditinstitut bei Vergabe schließlich fest mit Zinsen innerhalb des eigentlich anberaumten Zeitrahmens gerechnet hatte. Ob Banken aber allein schon für das Errechnen dieser Vorfälligkeitsentschädigung im Fall der vorzeitigen Rückführung eines Darlehens Gebühren verlangen dürfen, musste im Folgenden das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) beurteilen.
In dem Rechtsstreit ging es um eine Bank, die insbesondere Verbraucherkredite vergibt. Nach ihrem Preisverzeichnis verpflichten sich private Darlehenskunden, eine Pauschale von 100 EUR zu zahlen, wenn die Bank für sie die Höhe der Vorfälligkeitsentschädigung bei vorzeitiger Ablösung eines Darlehens errechnen soll. Die Pauschale wird unabhängig davon fällig, ob es nachfolgend zur vorzeitigen Rückführung des Darlehens kommt.
Ein solches Geschäftsgebaren ist nach Ansicht des OLG jedoch rechtswidrig. Das Errechnen der Höhe einer Vorfälligkeitsentschädigung gehört zu den vertraglichen Nebenpflichten einer Bank gegenüber Verbrauchern. Die Bank darf dafür kein gesondertes Entgelt verlangen. Etwas anderes gilt nur für Immobilienkredite. Dass die jeweilige Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung mit einem Verwaltungsaufwand verbunden ist, hat die Bank nach den abgeschlossenen Verträgen hinzunehmen.
Hinweis: Gebühren von Banken und Sparkassen sind immer wieder Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen. In aller Regel verlieren die Kreditinstitute.
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 14.12.2022 - 17 U 132/21
zum Thema: | Sonstiges |
(aus: Ausgabe 03/2023)
In einigen Bundesländern ist es Pflicht, seinen Hund über eine sogenannte Tierhalterhaftpflichtversicherung versichern zu lassen. Und wenn man sich den folgenden Fall und vor allem auch die Urteilsbegründung des Landgerichts Frankenthal (LG) zu Gemüte führt, leuchtet ein, dass dies Tierhaltern im gesamten Bundesgebiet dringend zu empfehlen ist. Denn es zeigt sich, dass Halter auch dann haften müssen, wenn ihnen selbst kein konkreter Vorwurf gemacht werden kann.
Eine Frau war zu Besuch bei einer Freundin. Mit von der Partie war auch der Rottweiler-Rüde des Bruders der Freundin, mit dem die Frau bereits gut vertraut war. Schon oft zuvor hatte sie mit dem Tier ohne Probleme gespielt und gekuschelt. Diesmal schnappte der Hund jedoch nach ihr und biss ihr ins linke Ohr. Die Wunde musste mit zahlreichen Stichen genäht werden. Die Frau war mehr als eine Woche lang arbeitsunfähig und hatte bis heute Schmerzen bei Druck- und Kälteeinwirkungen. Deshalb verlangte sie 4.000 EUR Schmerzensgeld vom Halter des Rottweilers. Der meinte jedoch, die Frau habe den Unfall durch ihr Verhalten erheblich mitverschuldet.
Das sah das LG anders. Die Frau hatte Anspruch auf das volle von ihr geltend gemachte Schmerzensgeld. Ein Hundehalter haftet, wenn sein Haustier einen anderen Menschen verletzt - und das selbst dann, wenn ihm kein falsches Verhalten vorzuwerfen ist. Die Haftung für ein Haustier setzt nämlich ein Verschulden nicht voraus. Zwar muss sich der Verletzte im Einzelfall ein eigenes Fehlverhalten als Mitverschulden anrechnen lassen. Im vorliegenden Fall konnte ein solches Fehlverhalten aber nicht bewiesen werden. Das bloße Hinwenden zu einem Tier kann ein Mitverschulden nicht begründen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die verletzte Person das Tier schon eine geraume Zeit über kennt und es bisher kein aggressives Verhalten gegeben hat.
Hinweis: Es zeigt sich wieder einmal, dass eine Tierhalterhaftpflichtversicherung ganz wichtig werden kann. Das Gleiche gilt übrigens für eine Haftpflichtversicherung für Menschen. Denn die Summe, die hier im Raum gestanden hatte, ist nichts im Vergleich zu Kosten, die beispielsweise entstehen können, wenn ein Hund unvermittelt über eine Straße rennt und einen schweren Unfall verursacht.
Quelle: LG Frankenthal, Urt. v. 04.11.2022 - 9 O 42/21
zum Thema: | Sonstiges |
(aus: Ausgabe 03/2023)